Historie erlebbar durch Zeitzeugen

Literatur ist etwas Fiktives, etwas Ausgedachtes – das wissen die Schüler. Aber dass hinter manchem Buch auch bittere Realität steckt, sollten die Schüler der Klassenstufe 10 erfahren.

In diesem Schuljahr bereiteten sich die Zehntklässler u.a. durch das Lesen und Bearbeiten des Romans „Weggesperrt“ von Grit Poppe auf die Realschulabschlussprüfung im Fach Deutsch vor. Ziel war es dabei, sich in die Hauptpersonen hineinzuversetzen und aus deren Sicht kreativ zu schreiben. Nicht leicht bei der Thematik des Buches. Es handelt von einem Mädchen, das Ende der 1980er Jahre in der DDR lebt, in Heime eingesperrt und auch in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau verbannt wird. Alles, was man in dem Buch liest, ist so schrecklich, dass man kaum glauben kann, dass es so oder ähnlich stattgefunden hat. 

Damit Geschichte für unsere Schülerinnen und Schüler erlebbar wird, hatten wir eine Zeitzeugin, Heidemarie Puls, sowie die Projektleiterin der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau zu einer interessanten Veranstaltung eingeladen. Zunächst schilderte Franziska Scheffler sehr anschaulich und informativ von der Disziplinierungsanstalt der Jugendhilfe, die direkt dem Ministerium für Volksbildung und damit Margot Honecker unterstand. Über 4000 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, die in anderen staatlichen Erziehungseinrichtungen negativ aufgefallen waren, wurden zur „Anbahnung eines Umerziehungsprozesses“ eingewiesen. Doch hatten sie weder Straftaten begangen noch gab es eine richterliche Anordnung für die Einweisung. Für die DDR-Bevölkerung hieß es allerdings immer, dass es sich hier um Jugendliche handele, die Straftaten begangen hätten. 

Gegen dieses Vorurteil u.a. kämpft Heidemarie Puls an, deren einziges „Vergehen“ darin bestand, aus anderen Heimen ausgerissen zu sein. Deshalb wurde sie in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen. Unvorstellbar sind die Gewalt und die Erniedrigungen, die sie als junges heranwachsendes Mädchen hat erfahren müssen. Sie musste das Schlimmste erleiden. Sie wurden mit dem „Fuchsbau“ bestraft, nachdem sie einem anderen Mädchen, das von einem „Erzieher“ zusammengeschlagen wurde, hat helfen wollen. Er war die härteste Strafe. Ein dunkles Loch – 1,30 Meter mal 1,30 Meter. Kein Fenster, kein Hocker, kein Eimer.

Dies ist nicht spurlos an dieser Frau vorüber gegangen; erst 2006 konnte sie beginnen, über dieses Kapitel Lebensgeschichte zu sprechen, d. h. zu schreiben. „Schattenkinder hinter Torgauer Mauern“ heißt ihr autobiografisches Buch. Wer nun glaubt, eine ernste, in sich gekehrte Frau zu erleben, der täuscht sich - lebensfroh, lachend und voller Power ist sie. Heidemarie Puls schreibt an ihrem zweiten Buch, ist Mitglied des Opferbeirates des GJWH Torgau und engagiert sich öffentlich gegen den Missbrauch von Kinder und Jugendlichen.

Durch diese Veranstaltung wurde das Buch von Grit Poppe für die Schüler lebendig, bekam ein Gesicht. Viele Eindrücke blieben im Gedächtnis haften und halfen mit, die Prüfung erfolgreich zu bewältigen.